Montag, 17. Januar 2022

JACQUES BREL - "so trübsinnig gestimmt" ...

Und sehnsuchtsvoll hatte ER das "musikalisch zum Ausdruck gegeben".
Damals, mit dem folgenden Wortlaut: "Ne me quitte pas" - verlass mich nicht.
Warum? - Und weswegen?
Das wird sich hier in Kürze so tiefgreifend entschleiern ... 
Oui, und in dieser erlebten, nachfolgend beschriebenen Begebenheit, da offenbarte es sich dann , wie eine "Stubenfliege" - rührselig-grotesk - dann derzeit zu einer "Ersatz-Geliebten" wurde. -
Im Oktober 1971. - Da waren wir, im nordwestlichen Frankreich, in der ehemaligen Grafschaft Anjou, unweit der Ortschaft Montjean, ein wenig "heimisch geworden".
Und an einem tagsüber sonnig-leuchtenden Herbsttag, da saßen wir im auflodernden Abendrot noch nachdenklich gestimmt am Ufergestade der Loire, ein momentan an Trennungsschmerz leidender Jacques Brel - und ich, "Didier",  in Frankreich. -
Wahrscheinlich mitfühlend, hatte angesichts dessen der Schauspieler Xavier Crauchet dem eine Beziehungskrise verschmerzen müssenden Jacques sein kleines Chalet am Ufer des hier noch schiffbaren Flusses überlassen ...
Fast geräuschlos gleitend, war dort soeben ein Segelboot zum Vorschein gekommen. - 
In Ufernähe vorbeiziehend, hatten die Bootsfahrer anscheinend den trübsinnig auf das Wasser schauenden Jacques Brel erkannt.
Schwärmerisch angetan, wurde nun johlend und gestikulierend das kleine Boot von der Seglergemeinschaft dermaßen einseitig belastet, daß es abrupt zu kentern drohte.
„Oje, ich verflüchtige mich jetzt, es wird mir hier draußen ein wenig zu kühl“, murmelte Jacques; erhob sich gelassen - und zog sein knopfloses weißes Hemd über die im Verlauf der Stunden schon leicht sonnengeröteten Schultern. - Vorab der noch immer beeindruckt an Bord stehenden Besatzung zuwinkend, nahm er seine Gitarre zur Hand und trollte sich schlurfend davon.
Wohl wahr, es ist doch immer wieder bemerkenswert, wie überschwenglich dem Chansonnier allerorten Beachtung geschenkt wird, dachte ich, als ich nun ebenfalls kehrtmachte.
Für den nachfolgenden Verlauf in dem gemütlichen Chalet, da sei nun noch so einiges anschaulich machend "illustriert":
Tagsüber wurden wir neugierig von einem kleinen, beflügelten, blau-grün-farben kostümierten "Mitbewohner" rastlos umschwirrt; ja, ununterbrochen schon am Frühstückstisch daseinsfreudig begrüßt. - Genußsüchtig war dem munteren Tierchen stets all das willkommen, was da so morgens und abends unseren Eßtisch schlemmerhaft anreicherte ...
Anfangs recht aufdringlich, ja ungebeten und auch zunehmend lästig, hatten wir uns bald - eingedenk einer moralischen Geisteshaltung: "Totschlagen ist nicht erlaubt!" - irgendwann doch an diese Art einer tagtäglich einfliegenden Frühstücks- und Abendessengeselligkeit gewöhnt. - 
Und bald darauf hatte sich dieses unabänderliche Miteinander darüber hinaus auch gefühlsmäßig fast schwärmerisch weiterentwickelt. -
Ein in den anbrechenden Morgenstunden wahrlich grotesk zum Ausdruck geratenes Geschehen ... 
Schwelgerisch Wein trinkend, hockten wir schon seit einigen Stunden vor einem stimmungsvoll flackernden Kaminfeuer.
Vier Flaschen "Musigny Grand cru", ein exquisiter Tropfen von der alten "Domaine Leroy, Vosne-Romanée" - alle zuvor schon entkorkt, „damit sich dann ansteigend ein umfassendes Bukett offenbart“, das hatte Jacques jedem verheißungsvollen „Plopp“ noch kundig hinzugefügt -, waren vermutlich recht anregend von Belang ...
Drei dieser zylindrischen Glasgefäße waren inzwischen geleert, als sich das bisherige Geplauder dann zunehmend in leicht absurden Sphären beflügelte.
Wohl noch immer vom Trennungsschmerz nachhaltig durchdrungen, verdeutlichte Jacques nun summend sein derzeitiges Herzeleid mit dem Chancon: „Ne me quitte pas, verlasse mich nicht ... wir müssen vergessen ... ich werde nicht mehr weinen ... ich verstecke mich ...“ - oder stierte nach innen gerichtet in die im Kamin aufflammenden Holzscheite. 
Bis hin zu einem stimmungsvoll aufhorchen lassenden Moment, in welchem vermittels Gitarre, lyrisch akzentuiert, die folgende Gefühlsduselei zum bedeutsamen Ausdruck gebracht wurde: „Was soll’s, die Erkenntnis: du mußt jetzt verzichten, gemahnt auch, sich seelisch bald aufzurichten!" fügte er, verschmitzt grinsend, noch geheimnisumwittert hinzu.
Rätselhaft ... „Was willst Du denn damit jetzt so urplötzlich verdeutlichen?“ forschte ich aufmerksam werdend nach.
„Oui, ma Cherie: Mon Nathalie! - Qu’est-ce qui s’est passe?“ psalmodierte er angeregt weiter.
„Cherie? Nathalie? Mon dieu! Was ist denn da jetzt so gefühlsselig geschehen? - Kannst Du das bitte etwas transparenter offenbaren?“ bat ich um Aufschluß.
„Auch wenn’s als "Notbehelf" erscheint, die "Stubenfliege" ist gemeint“, brach es nun schalkhaft aus ihm heraus.
Verwundert schaute ich sekundenlang ungläubig drein ...
Dann hatte sich alles gelichtet: „Aha! Und Nathalie nennst Du das Geschöpf deiner Begierde“, begann ich an seiner absonderlich aufblühenden Überspanntheit kumpelhaft Anteil zu nehmen.
„Oui, es war'n die freßvergnügten Stunden, in welchen wir uns wohl gefunden“, tremolierte er schwärmerisch weiter drauflos.
„Äh - wie das denn?“ mimte ich aufhorchend Erstaunen.
„D‘accord, ich erzähl’ mal, wie’s geschah, mit der Madame domestica“, begann er’s zutage tretend anschaulich zu machen. „Hungrig, völlig selbstvergessen, nascht sie beherzt am Abendessen.
Hernach hat sie, recht unbedacht, sich schwungvoll auf den Weg gemacht; 
aus einer Fleischpastetenspalte, ins Glas, das ich in Händen halte! - 
Chateau d’Yquem? Chateau Margaux? - 
Jedenfalls war's ein Bordeaux, in dem sie überstürzt versunken. - 
Und gleich darauf wohl auch ertrunken! 
Wenn nicht - trotz der Schrecksekunde - ich, mit zugespitztem Munde, 
hilfreich kämpfend um ein Leben, nun schnellstens diesen Saft der Reben, 
gleich schlürfend in mich aufgenommen! - 
Sonst wär’ sie darin umgekommen. - 
Und seither, so viel nur am Rande, vereint uns liebevolle Bande.“ 
Voilá! Jacques Brel beschwipst beschwingt in "Reinkultur".
Schmunzelnd nahm ich diese eigenwillige Verdeutlichung zur Kenntnis.
Nicht ohne jedoch gleich darauf entmystifizierend enthüllen zu wollen: „Ne m’en veuillez pas! (Nichts für ungut!) Mon ami. - Aber dieses unruhig herumfliegende Objekt einer möglicherweise abartigen Begierde ist ja wohl unverkennbar als maskulin einzuordnen!“
„Non, für mich wiederum nicht!“ hielt er dagegen. „Nun schau doch ‘mal ganz genau hin! Diese langen, seidigen Augenwimpern. Zudem eine fast schon lasziv dargebotene Weiblichkeit! - Und all das offenbart sich hier auch noch freimütig so absolut hüllenlos!“
„Hm? Wie immer Du derzeit beeindruckbar bist, mon Jacques, aber Du weißt ja, daß Nathalie gern hingebungsvoll in jedem Unrat herumstochert? Getreu nach dem Motto: Eßt mehr Scheiße, denn Millionen Fliegen können sich wahrlich kaum irren!“ gab ich nun doch zu bedenken.
„Mon dieu! Didier, mußt Du derartig ordinär laut werden?“
„Das hat Depardieux neulich vom Stapel gelassen ...“
„Non, Nathalie ist fleckenlos sauber, drogenfrei und absolut stubenrein! 
Und beneidenswert werden wir miteinander glücklich sein“, verkündete er kopfnickend. - Um dann noch zu ergänzen: „Ich freue mich auf die romantischen Abende, wenn ich buchvertieft vor dem Kamin residiere, und mon chéri Nathalie lebensbejahend um mich herumsummt.“
„Wie rührselig! - So wolkenlos glücklich, derart umflügelt in solch ein himmlisch aufleuchtendes Elysium hineinzugleiten“, erweiterte ich seine hochschwingende Gefühls-Eigendynamik.
Gramgebeugt blickte er daraufhin auf: „Ach, sich neubelebt wiederfinden in einem wohltuenden Miteinander, nicht mehr lieblos beeinträchtigt durch all die kontinuierlich auflodernden Streitereien. - Ist das nicht verheißungsvoll und auch erstrebenswert?“ klagte er’s ein.
„Oui, an und für sich schon“, mußte ich beipflichten. „Jedoch schlummert in dieser Art "Liebelei" ja nachweislich ein wahrhaft unheildrohendes Risiko!“ 
„Didier, was willst Du denn jetzt damit so grausam und herzlos heraufbeschwören?“ fuhr er mich schmollend an.
„Eine wohl unvermeidliche Gegebenheit, mon ami!“ gab ich sogleich bedeutungsvoll zu verstehen. 
„Denn ein bösartig verlaufendes Infektionssiechtum, ausgelöst durch all diese Stubenfliegen, als sogenannte "Fliegenkrankheit" weltweit zu einer qualvollen Geißel geworden, alsbald nun auch Dich so "lebensgefährlich betreffend!"
„Das ist doch absolut schwachsinnig, imbécile! - Die so quicklebendig herumstreunende Nathalie macht auf mich augenfällig einen rundum gesunden Eindruck! - Ihre Blut- und Leberwerte sind vermutlich weitaus lebensbejahender als die meinen!“ winkte er unzugänglich ab.
„Ach, sieh an: Man kann sich im Dasein auch alles unwirklich schönreden“, hielt ich schonungslos dagegen. - „Dieser arglistige Krankheitsverlauf nistet sich jedoch irgendwann folgendermaßen in Deinem Körper ein: Ein sogenannter zweigeißliger Algenpilz, Mediziner sprechen da mahnend von einem Phycomycetes, der entwickelt sein Pilzgewebe parasitisch mit Vorliebe in Fliegen! Und aus solch einem tierischen Leib werden bald darauf unzählige Sporen ausgeschleudert. Um sich dann zutraulich geißelnd sofort im menschlichen Organismus festzubeißen. - Oui! Demnach auch unabänderlich demnächst in DEINEM - compendre?“
So, als sei er nun plötzlich doch ein wenig beunruhigt, schaute Jacques sekundenlang in das noch immer erfreulich stallwarm lodernde Kaminfeuer; um dann allerdings - Einspruch erhebend - lauthals dagegenzuhalten:
„Non Didier, hör‘ doch jetzt bitte auf mit dem Blödsinn! -
Denn mit diesen zwielichtigen, pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen möchtest Du mich offenbar neiderfüllt liebend gern in Angst und Schrecken versetzen! So muß ich das leider verstehen - oder?“
„Non! - Wie kannst Du so etwas für möglich halten?“
„Ach, doch ein eifersüchtiges Neidgefühl? Nun ja: Pas accessible à tout le monde! Nicht für jeden zugänglich! So kann man solch eine Intimität wohl verdeutlichen, Didier!“ gab er mir vorwurfsvoll zu verstehen ... 
Am darauf folgenden Tag war ich erst gegen Mittag - zuvor im Schlaf oftmals von traumgesichtigen Halluzinationen heimgesucht, mehr hinfällig meinem Nachtlager entschwunden. - Unsicher auf energielosen Beinen stehend, versuchte ich schwankend in eine Hose zu schlüpfen, um mich - noch so einigermaßen zumutbar - in die Küche zu begeben. Wo ich dann eine sentimental arrangierte Darbietung "vor Augen hatte": 
Plaziert auf dem hölzernen Fensterbrett, stellte sich auffallend dort ein leeres, umgestülptes Marmeladenglas zur Schau. - Zuoberst ließ ein brennendes Talglicht flackernde Lichtreflexe aufscheinen. Rund um das Glas herum waren dekorativ die Blüten einer Heckenrose gefühlsbetont hinzugefügt. -
Tja, und unter dem gläsernen Behältnis lag, offensichtlich reg- und leblos, die zuvor noch so inbrünstig umbuhlte Nathalie; die dünnen Beinchen nun erbarmungswürdig gen Himmel gestreckt ...
Oui, nun auf der Suche nach einem gegebenenfalls todunglücklich umherirrenden Leidtragenden, sah ich ihn bald darauf gesenkten Hauptes, kettenrauchend auf der Terrasse sitzen. - 
„Mon dieu! Was ist denn, während ich ahnungslos schlief, mit unserer Dir nun seit einigen Tagen so hilflos ausgelieferten Nathalie geschehen? Hat sie den Freitod gewählt, weil Du sie ja unaufhörlich bedrängt hast?“ forschte ich theatralisch zur Sprache gebracht nach.
Mißvergnügt schaute er daraufhin auf: „Nun, da sie mir nicht zu Willen sein wollte, hab’ ich sie wutschnaubend erwürgt!“ brach es mißgestimmt aus ihm heraus. - Um gleich darauf anklagend vom Stapel zu lassen: „Non, Du bist verantwortlich dafür, daß sie zu Tode gekommen ist! Denn eines der von Dir so leichtsinnig und recht unbekümmert halbvoll mit Wein stehengelassenen Gläser, ist der Nathalie todbringend zum Verhängnis geworden!“
„Wieso das? - Äh ...“, einstweilen etwas begriffsstutzig, horchte ich daher hinlänglich erschrocken auf.
„Naja, vermutlich hat sie nur ihren Durst stillen wollen - und ahnungslos ob der so unheilvoll hereinbrechenden Auswirkungen, zu viel davon geschlürft!“ 
„Und? Das muß ja letztendlich nicht unbedingt todbringend enden. -
Wir setzen das immerhin seit einigen Tagen trinkfreudig in Szene!“ wandte ich unbesorgt ein.
„Das schon, Didier“, stimmte er mir achselzuckend zu. „Nur haben wir bisher ja vorsichtshalber dann davon Abstand genommen, anschließend so wonnetrunken beseelt gegen die Fensterscheibe zu fliegen - und uns dabei vermutlich das Genick zu brechen!“ so gab er‘s mir als ein nicht akzeptables Verhalten wegweisend zu verstehen.
Damals, 1971, im Landhaus des Freundes Xavier Crauchet. -
Postskriptum:
Unglücklicherweise wurde dann drei Jahre später, im Herbst 1974, bei dem pausenlos Zigaretten rauchenden Jacques Lungenkrebs diagnostiziert ...
Vieles in Frage ziehend, wohl auch das sogenannte "Für und Wider" bedenkend, ist er dann anscheinend anderen Sinnes geworden - und zog sich erst einmal aus der Öffentlichkeit zurück.
Mit seinem hochseetauglichen Segelboot „Askoy“, segelte er bald darauf tagelang über den Atlantik, einen Zwischenstopp machend auf der kanarischen Insel Teneriffa.
Ab 1975 war er auf der Marquesas-Insel Hiva Oa in Französisch- Polynesien ansässig geworden. - Und dort auch, mit seinem "Flugzeug", bei vielen der Insel-Bewohnern in "Notfällen" oftmals stets hilfreich zugegen. -
„Depuis quelques jours je ne me sens pas bien" ... 
(Seit einigen Tagen fühle ich mich nicht wohl) - das hatte er dann doch zu spüren gegeben.
Am 9. Oktober 1978 mußten wir uns schmerzbewegt damit abfinden, daß Jacques, in einer Klinik in Bobigny bei Paris, im 49sten Lebensjahr seinem "Hiersein" als unheilbar plötzlich erlegen war.
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C'est très regrettable ... Adieu! Jacques Chere.
-
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